Montag, 1. September 2025

Sommerschreib-Blogwerkstatt 2025 / 4. Zusendung

... oder der Versuch, mich mit eigenen Antworten der sommerlichen "Challenge" zu stellen. Vielen Dank für den Anlass und auch für die Fragen.

"Wie zart sie das zarte berühren …"

Heinrich v. Kleist



1. Gab es Menschen oder Momente in der Wochenkrippe, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?


C: Ich kann mich an nichts erinnern, und es gibt auch keine Fotos oder Dokumente, außer dem Impfausweis und einigen frühen Bekenntnissen meiner Mutter. Meine noch lebenden Eltern verweigern mir ihre Erinnerungen. Andere persönliche Zeitzeugen kenne ich nicht.


2. Was hat diese Zeit vielleicht bis heute in dir hinterlassen – in Beziehungen, im Alltag oder im Inneren?


C: Sie hat mich mit quälenden Todesängsten durch meine Kindheit hindurch und mit einer abgründigen Verunsicherung aufwachsen lassen – und zur „Philosophin wider Willen“* gemacht. Mit Peter Handke teile ich die zärtliche Sehnsucht, „die Angst für alle Zeiten von jemandem wegzustreicheln …“


3. Wie reagieren andere, wenn du von deiner Zeit als Wochenkind erzählst – und wie erklärst du sie selbst?


C: Von abweisend schroff bis erschrocken fassungslos war alles dabei. Am meisten bewegen mich sowohl die Stigmatisierung – wie Stigmatisierungen insgesamt – als auch die Folgen für ganze Familiensysteme, die diese frühkindliche Prägung nach sich zog. Ich kann weder die Reaktionen anderer noch meine Wochenkinderzeit "erklären", aber ich lerne sie zu deuten, besonders durch den Austausch mit anderen ehemaligen Wochenkindern und durch die Beobachtung gelingender Eltern-Kind-Beziehungen bis ins gemeinsame Erwachsenenleben hinein.


4. Was würdest du heutigen Eltern oder Betreuer:innen mit auf den Weg geben wollen?


C: Befragt uns gern. Sprecht vor allem zärtlich mit mir und anderen Wochenkindern über Erinnerungen, die mich und uns tief geschmerzt haben könnten. Und hört gut zu. „Ich weiß, dass unsere Beziehung die Dinge in der Welt nicht ungeschehen macht. Ich arbeite jedoch mit dir und anderen Menschen daran, sie zärtlicher für alle Menschen zu machen.“ **


Meine 1987 verstorbene Großmutter hat mir zudem einen Spruch von Jean Paul ins kindliche rote Poesiealbum geschrieben, der noch heute wie ein Orakel auf mich wirkt: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können.“ Seit ich selbst denken und bewusst fühlen kann, habe ich nach diesem Paradies gesucht. Doch ich stamme von einem Elternpaar ab, das mit meinem Wunsch nach Erinnerungen aus meinen ersten drei Lebensjahren partout nichts zu tun haben möchte. Es steckt offenbar so viel liebevoller Samen in dieser tief verborgenen Erinnerung für mich, dass ich staune, wie er mich durch die ungestillte Lebenslust hindurch gerettet hat.


5. Welche Dinge haben dir auf dem Weg der Heilung und Erkenntnis geholfen und weitergebracht?


C: Jeder Mitmensch, der mir zärtlich zugehört hat, jedes Wunder, das mir zum Trost wurde, und viel Stille, die mich  - auf meinem langen, zuweilen verworrenen Weg zu mir selbst - endlich innerlich befrieden konnte. Für mich ist Zärtlichkeit zum Weg geworden als ein stillendes Füreinander, in dem selbst tiefe Wunden sich verwandeln …





(von Cora)

* aus: Alice Holzhey-Kunz: Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotionaler Erfahrungen. Basel 2020
** aus: Seyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. Hamburg 2021


Einladung zur Schreibwerkstatt für ehemalige Wochenkinder

"Sich finden lassen – Lust am Schreiben entdecken"

Liebe Wokis, 
Ihr seid hiermit herzlich eingeladen zum "Kreativen Schreiben" 

am Samstag, dem 08.11.2025, von 15 Uhr bis 18 Uhr 
(Treffpunkt in der Dresdner Altstadt wird nach Anmeldung bekanntgegeben) 

Viele unserer Biografien sind geprägt von Erfahrungen, die schwer in Worte zu fassen sind. Manchmal fehlen uns die Worte, sei es beim Sprechen oder Schreiben. In dieser Schreibwerkstatt geht es nicht darum, die richtigen Worte zu finden. 

Stattdessen werden wir uns von Worten finden lassen. Behutsam und ohne Leistungsdruck werden wir mit unserer Sprache spielen und uns von ihr überraschen lassen. 

Entdecke Worte, Geschichten und Wahrheiten, die dein Leben bis heute bereichert haben und geh mit ihnen neu auf die Reise - in einem sicheren Raum, mit Offenheit und Respekt, Schritt für Schritt im Tempo deiner Wahl. 

Sei gespannt auf deine Schreibstimme und das, was sie dir zu sagen hat 😊

Fühl Dich herzlich willkommen – so, wie du bist.
Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. 

Anmeldungen - bitte per E-Mail an dresden@wochenkinder.de - ab sofort möglich!


"Was tut mir gut?"

Sommerschreib-Blogwerkstatt 2025 / 3. Zusendung

Gerne beteilige ich mich auch an der  Sommerschreib-Blogwerkstatt "Reflexionen ehemaliger Wochenkinder", und zwar mit folgendem Gedicht, welches mir für unser Therma am passendsten erscheint. Da ich keine aktuellen Kunstwerke habe, poste ich dazu ein paar Bilder, die ich mit 5 Jahren im Kindergarten (mein erstes Jahr in einem regulären Kindergarten) gemalt habe. Liebe Grüße, Rico.

Jugendsünde

Es hat ein Marionettenmann, 
an seinen Zwirnen hing er dran,
den Lenker suchen sich getraut,
ach, hat da nur ein Kind erschaut. 

Und wenn ich keine Fäden hätt,
so grübelte der Marionett,
wär jeder Tag voll Sonnenschein, 
ja, und ich trüg mein Kreuz allein. 

Er riss sich los, doch war er schwach
und schlug lang hin mit lautem Krach.
Dem Boden der Tatsachen war
er mit der Nase traurig nah.

Nur weiter jetzt und ganz in Ruh, 
so sprach sich leis der Holzkopf zu.
Und lernt nun laufen Tag für Tag,
und Handstand und den Überschlag.







Gab es Menschen oder Momente in der Wochenkrippe, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Aus der Wochenkrippe und dem Wochenkindergarten habe ich nur bildhafte Erinnerungen. Ich erinnere mich an die Waschräume und den Schlafsaal, der nur Oberlichter hatte. Ich erinnere mich an die Radiosendung "Butzemannhaus", die wir zum Einschlafen hörten. Ich erinnere mich, dass es einen abgetrennten Raum mit Kindern gab, die Windpocken, Mumps oder Röteln und dergleichen hatten. Ich erinnere mich, dass wir manchmal bis in die Dunkelheit hinein auf dem Spielplatz waren und dass wir täglich abgekochte Milch zu trinken bekamen, die auch manchmal sauer war. Einmal hatte ich mir eine Platzwunde zugefügt und meine Mutter musste mich abholen und zum Arzt bringen. Ein anderes Mal haben mich die Erzieherinnen beim Mittagsschlaf zu spät geweckt und ich war traurig, weil das Mittagessen schon vorbei war.

Was hat diese Zeit vielleicht bis heute in dir hinterlassen – in Beziehungen, im Alltag oder im Inneren? 

Beziehungsangst, Bindungsangst, Probleme mit Veränderungen, Muskelverspannungen und Faszienprobleme, Kommunikationsprobleme (sich mitzuteilen), Angst vor Konfrontationen, Schwierigkeiten, mich zu entscheiden, Angst vor Autoritätspersonen, Häufiges Dissoziieren (vom Tagträumen bis zur Angststarre), immer mindestens 50% Stresslevel als Grundanspannung, Angst, vor der Zukunft, vor Ausschluss aus der Gemeinschaft und vorm Verlassenwerden, schlechte Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer und meiner eigenen, häufiges Grübeln. Wenig Freude über eigene Erfolge.

Wie reagieren andere, wenn du von deiner Zeit als Wochenkind erzählst – und wie erklärst du sie selbst? 

Recht unterschiedlich. Manche sind sehr mitfühlend und ergriffen. Meine Eltern betrachten es als eine damalige Notwendigkeit und als abgeschlossenes Kapitel. Einer meiner Freunde fühlte sich tatsächlich in seiner DDR-Identität verletzt und wollte mir einreden, meine Probleme kämen von der Wendezeit.

Was würdest du heutigen Eltern oder Betreuer:innen mit auf den Weg geben wollen?

Soviel Zeit wie möglich mit den eigenen Kindern zu verbringen und das Handy dabei wegzulegen. Weniger Kurse für die Kinder und dafür mehr Familienzeit, Ausflüge und dergleichen. Ich sehe auch zumindest den Kindergarten als Notwendigkeit für Eltern und Kinder beidermaßen. 

Welche Dinge haben dir auf dem Weg der Heilung und Erkenntnis geholfen und weitergebracht? 

Unterhaltungen mit anderen ehemaligen "Problemkindern" aus dem Heim oder von narzisstischen Eltern. Vorträge von Frau Liebsch. Natürlich unsere Selbsthilfegruppe. Bücher und Podcasts. Meditation und Sport. Meine Frau.

 

Sommerschreib-Blogwerkstatt 2025 / 2. Zusendung

Wir freuen uns, die zweite tolle Einsendung zu unserer diesjährigen Sommerschreib-Blogwerkstatt veröffentlichen zu dürfen – aus der Schweiz, von Cornelia Bischof Stadelmann.

Vielen lieben Dank 🙏 an Cornelia, die auch im letzten Jahr mit der sehr eindrücklichen Collage "Sichtbar" bei unserer Dresdner Ausstellung "ferne nähe. Reflexionen ehemaliger Wochenkinder" vertreten war. Sie schreibt erläuternd zu ihren neuen Arbeiten: 

"Den ganzen Sommer lang habe ich gedacht, ich möchte unbedingt etwas für die 'Sommerschreib-Blogwerkstatt' senden. Nun ist bereits der letzte Tag im August. Worte finden und in sich erspüren und dann sie auf Papier bringen ist gar nicht so einfach. (…)
Ich lass deswegen die Bilder sprechen und ergänze diese mit einigen Schlagwörtern dazu. Ausgangsbild war das Foto von mir aus der Wochenkrippe. Dazu habe ich mit Ton experimentiert.

Spuren im Ton
Tonkörper
Geformt
Gebrannt
Formbar und dann nicht mehr formbar?
Verbindung zur Erde
Reale Spuren für die Ewigkeit- ausser es zerbricht
geschichtete Geschichte
Grün - die Farbe der Hoffnung
Der Sauerklee wird zum Glücksklee ..."


 
Wochenkrippe, 7 Monate

  Tonspuren 1

 Tonspuren 2

Tonspuren 3

  
Tonspuren 4

Tonkörper 1

Tonkörper 2

Körperton

Herzlicht

Herz

Sommerschreib-Blogwerkstatt 2025 / 4. Zusendung

... oder der Versuch, mich mit eigenen Antworten der sommerlichen  " Challenge " zu stellen. Vielen Dank für den Anlass und auch ...