Mittwoch, 24. September 2025

Wochenkinder und die Diagnose der kPTBS (von Rico)

Nachdem ich Pete Walkers Buch  "(Komplexe) Posttraumatische Belastungsstörung- Vom Überleben zu neuem Leben." gelesen hatte, war ich überzeugt: Die Wochenkrippe hat in mir eine kPTBS ausgelöst. Dann las ich in Laurence Hellers Buch "Trauma heilen", dass in die Internationale Klassifizierung der Krankheiten (ICD) der 11. Ausgabe eben diese kPTBS mit aufgenommen worden war.

Das fand ich interessant und ich schaute mir den Eintrag 6B41 an. Die dortige Beschreibung der kPTBS zu Grunde liegenden Erfahrungen "z. B. Folter, Sklaverei, Völkermordkampagnen, lang anhaltende häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Missbrauch in der Kindheit" gingen aber im ICD-11 eher in eine ganz andere Richtung als die der "emotionalen Deprivation". 

Die Beschreibung der Symptome :"1) Probleme bei der Affektregulierung; 2) Überzeugungen über die eigene Person als erniedrigt, unterlegen oder wertlos, begleitet von Scham-, Schuld- oder Versagensgefühlen im Zusammenhang mit dem traumatischen Ereignis; und 3) Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich Anderen nahe zu fühlen" trifft jedoch bei den ehemaligen Wochenkindern häufig den Nagel genau auf den Kopf.

Nun war ich etwas ratlos. Zusätzlich hatte ich gelesen, dass frühzeitige emotionale Deprivation in ein sogenanntes "kritisches Zeitfenster" fallen kann, in dem sich die Anlagen zur Empathie im Kleinkind entwickeln. War ich hier einer echten "Entwicklungsstörung" auf der Spur? Ein weiterer Artikel, den ich fand, relativierte diese Aussage jedoch: die Zeitfenster bleiben durch die Plastizität des Gehirns lange Zeit geöffnet, was fehlte, kann nachgenährt werden, wenn auch mit viel Aufwand und hinterbleibenden Schwierigkeiten. Bei Kindern gäbe es ausserdem kein aussagekräftiges statistisches Material (großangelegte Langzeitstudien) zu den Folgen von früher Vernachlässigung, manchmal aus ethischen, manchmal aus ideologischen Gründen. Hatte man Bowlby, Winnicott und Matějček vergessen?
Ein anderer Artikel schien das Dilemma zu bestätigen: Die psychologische Diagnostik des ICD und des DSM hatte und hat ihre Schwierigkeiten mit Traumata bei Kindern, da sich diese bei Kindern anders äussern als bei Erwachsenen. 

Um nun etwas Licht ins Dunkel zu bringen, fragte ich bei einer versierten Psychologin nach. Diese nannte mir einen neuen Begriff: Entwicklungstraumastörung. Diese bezieht sich speziell auf Symptome von Kindern nach traumatischen Erlebnissen, ist also kPTBS speziell für Kinder. Und hier findet man tatsächlich den Begriff Vernachlässigung! Die Entwicklungstraumastörung ist aber noch in der fachlichen Disskussion, deswegen wird auch bei Kindern meistens dann doch kPTBS/PTBS diagnostiziert, bzw. die Begriffe werden synonym benutzt. 

Was passiert aber nun mit Erwachsenen, die als Kind traumatische Erlebnisse hatten und deshalb Probleme haben? Solange sie diese Probleme erinnern können, was manchmal auch eine Zeit lang dauern kann und eventuell speziell geschulte Psychologen erfordert, kann auch hier die Diagnose kPTBS (oder PTBS) greifen. Wochenkinder aber erinnern sich meistens nicht an ihre Erlebnisse. Deswegen gilt die Wochenkrippe auch nicht automatisch als traumatisches Erlebnis mit bleibenden Folgen! 

Wochenkinder sind wohl aber empfänglicher für Traumata im späteren Leben, da sie einerseits wegen mangelndem Urvertrauen und schlechterer emotionaler Regulation weniger Resilienz entwickeln können. Andererseits erleben sie oft auch eine tendenziell schlechtere Behandlung durch ihre Eltern. Deswegen ist die Traumadiagnose bei Wochenkinder davon abhängig, ob sie nach der Wochenkrippe oder dem Wochenheim noch Traumata bekommen haben, über die sie sprechen können. Die Entwicklung einer kPTBS kann zwar auf traumatische Ereignisse in der Kindheit zurückgehen, bezieht sich aber diagnostisch auf Symptome im Erwachsenenalter.

Viel hängt hier auch von der Einstellung des jeweiligen Psychologen oder Traumatologen zum Thema Wochenkrippe ab. Wer also einen Traumatologen bzw. Traumaspezialisten aufsuchen möchte, sollte sich beim Erstgespräch oder bei der Terminvereinbarung darüber erkundigen, ob sich dieser/diese sich mit dem Thema Wochenkrippe und Entwicklungstrauma auskennen.

Die Behandlung der körperlichen Symptome, die von der frühkindlichen emotionalen Vernachlässigung zurückbleiben, wird wohl auch auf lange Sicht nicht von Kassen übernommen werden, weil sich diese Symptome nicht "gesichert" zuordnen lassen und oft auch individuell unterschiedlich sind. Sie passen also leider nicht in eine Schublade.

Empfohlen wurden mir noch die Bücher von Peter Fonagy wie: "Bindungstheorie und Psychoanalyse" und "Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst" und das umfangreiche Werk von Karl Heinz Brisch. 

Vielleicht noch eine kleine logische Schlussfolgerung meinerseits:

Aus einem Bindungstrauma, welches die Wochenkrippe ja darstellt, entwickelt sich nicht automatisch eine Bindungsstörung und aus einer Bindungsstörung nicht automatisch eine Persönlichkeitsstörung. Einem Bindungstrauma folgt nicht notwendigerweise ein Entwicklungstrauma und aus einem Entwicklungstrauma wird nicht automatisch eine Entwicklungstraumastörung bzw. ein kPTBS. Alles hängt davon ab, welche Hilfe das betroffene Kind erhält und wie es mit dem Trauma umgehen kann und umzugehen lernt. 

Korrektur: Die ICD-11 ist übrigens noch nicht im deutschen Versicherungssystem gültig, das heißt, Diagnosen werden nach wie vor mit der ICD-10 verschlüsselt, in der die kPTBS nicht enthalten ist.  

Meditationen, Einschlafhilfen, etc.

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