"Wie zart sie das zarte berühren …"
Heinrich v. Kleist
1. Gab es Menschen oder Momente in der Wochenkrippe, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?
C: Ich kann mich an nichts erinnern, und es gibt auch keine Fotos oder Dokumente, außer dem Impfausweis und einigen frühen Bekenntnissen meiner Mutter. Meine noch lebenden Eltern verweigern mir ihre Erinnerungen. Andere persönliche Zeitzeugen kenne ich nicht.
2. Was hat diese Zeit vielleicht bis heute in dir hinterlassen – in Beziehungen, im Alltag oder im Inneren?
C: Sie hat mich mit quälenden Todesängsten durch meine Kindheit hindurch und mit einer abgründigen Verunsicherung aufwachsen lassen – und zur „Philosophin wider Willen“* gemacht. Mit Peter Handke teile ich die zärtliche Sehnsucht, „die Angst für alle Zeiten von jemandem wegzustreicheln …“
3. Wie reagieren andere, wenn du von deiner Zeit als Wochenkind erzählst – und wie erklärst du sie selbst?
C: Von abweisend schroff bis erschrocken fassungslos war alles dabei. Am meisten bewegen mich sowohl die Stigmatisierung – wie Stigmatisierungen insgesamt – als auch die Folgen für ganze Familiensysteme, die diese frühkindliche Prägung nach sich zog. Ich kann weder die Reaktionen anderer noch meine Wochenkinderzeit "erklären", aber ich lerne sie zu deuten, besonders durch den Austausch mit anderen ehemaligen Wochenkindern und durch die Beobachtung gelingender Eltern-Kind-Beziehungen bis ins gemeinsame Erwachsenenleben hinein.
4. Was würdest du heutigen Eltern oder Betreuer:innen mit auf den Weg geben wollen?
C: Befragt uns gern. Sprecht vor allem zärtlich mit mir und anderen Wochenkindern über Erinnerungen, die mich und uns tief geschmerzt haben könnten. Und hört gut zu. „Ich weiß, dass unsere Beziehung die Dinge in der Welt nicht ungeschehen macht. Ich arbeite jedoch mit dir und anderen Menschen daran, sie zärtlicher für alle Menschen zu machen.“ **
Meine 1987 verstorbene Großmutter hat mir zudem einen Spruch von Jean Paul ins kindliche rote Poesiealbum geschrieben, der noch heute wie ein Orakel auf mich wirkt: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können.“ Seit ich selbst denken und bewusst fühlen kann, habe ich nach diesem Paradies gesucht. Doch ich stamme von einem Elternpaar ab, das mit meinem Wunsch nach Erinnerungen aus meinen ersten drei Lebensjahren partout nichts zu tun haben möchte. Es steckt offenbar so viel liebevoller Samen in dieser tief verborgenen Erinnerung für mich, dass ich staune, wie er mich durch die ungestillte Lebenslust hindurch gerettet hat.
5. Welche Dinge haben dir auf dem Weg der Heilung und Erkenntnis geholfen und weitergebracht?
C: Jeder Mitmensch, der mir zärtlich zugehört hat, jedes Wunder, das mir zum Trost wurde, und viel Stille, die mich - auf meinem langen, zuweilen verworrenen Weg zu mir selbst - endlich innerlich befrieden konnte. Für mich ist Zärtlichkeit zum Weg geworden als ein stillendes Füreinander, in dem selbst tiefe Wunden sich verwandeln …