Dies ist ein zusammenfassender Beitrag, den ich im Januar 2024 geschrieben habe:
Ich möchte hier kurz über das Kernproblem vieler psychischer Probleme sprechen, wie es von Dr. Laurence Heller und Dami Charf erklärt wird.
Also
das Kernproblem ist, dass sich Kinder beim Aufwachsen eventuell
entscheiden müssen zwischen der Bindung an ihre Bezugsperson und ihrer
eigenen Entwicklung. Das Kind wird sich dann immer für die Bindung
entscheiden und seine eigene Entwicklung aufgeben. Dabei gibt es 5
Entwicklungsschritte, die gestört werden können: Bindungsfähigkeit
(bonding), Einstimmung (attunement), Vertrauen (trust), Autonomie
(autonomy) und Liebe/Sexualität.
Der
Grund dafür ist, dass Kleinkinder Bindungsfehler ihrer Bezugsperson
immer auf sich beziehen, da sie sich noch nicht in andere Personen
hineinversetzen können. Sie suchen den Grund für eine
Bindungsschwächung, -abbruch oder -missbrauch bei sich und werten sich
deshalb selbst herab. Darüber hinaus wird jeder Schritt in Richtung
erwachsen werden und jeder eigene Erfolg als Bedrohung der Bindung zur
Bezugsperson empfunden, selbst dann noch, wenn man nicht mehr von der
Bezugsperson abhängig ist.
Störungen
in der ersten Stufe führen dazu, dass sich das Kind als nicht lebens-,
liebens-, und bindungswert empfindet. Es hat Scham vor seiner eigenen
Existenz, vor seinen Gefühlen und seinem Bedürfnis nach Bindung. In der
zweiten Stufe hat man Angst davor, seine Bedürfnisse zu kommunizieren,
also um Hilfe zu bitten. Bei Störung des Vertrauensschritts hat das Kind
Scham vor Abhängigkeit, Schwäche und Verletzlichkeit. Störung des
Autonomiebestrebens führen zu Angst vor Selbstbestimmung, Autonomie und
Unabhängigkeit. Störung der Liebesfähigkeit führen zu Angst vor
Intimität und davor, sein "Herz an jemanden zu verschenken", bzw. seine
intimen Gedanken mitzuteilen.
Die
dementsprechenden Vermeidungs- oder Überlebensstrategien sind: Trennung
und Distanzierung (disconnection); Überanpassung und Verschlossenheit;
(falsche) Selbstständigkeit, Kontrolle und Stärke; Überanpassung oder
übertriebene Autonomie; Perfekt sein wollen, rasch wechselnde,
oberflächliche oder überhaupt keine Liebesbeziehungen eingehen.
Mit
der Scham und Angst sind auch negative Emotionen und Gefühle verbunden,
die eigentlich an die Bezugsperson addressiert sind, aber vom Kind
gegen sich selbst gerichtet werden: Scham,Wut, Hass und Angst. Diese
Autoaggressionen kommen immer dann zum Vorschein, wenn eine Situation
auftritt, in der ein gestörter bzw. nicht erfolgter Entwicklungsschritt
abgefragt wird, Bindung, Empathie, Vertrauen, Autonomie, Sexualität. Sie
können sich als Depression, Selbstverletzung, Selbsthass oder
psychosomatische Phänomene wie Schmerz oder Ohnmacht manifestieren.
Strategien
zur Kompensation gibt es viele. Suchtverhalten, die angesprochene
Selbstverletzung, Selbstisolation, Projektion des Hasses auf andere
Personen und Personengruppen, Kontrollverhalten sowie im schlimmsten
Fall Weitergabe des Traumas an andere über psychischen und physischen
Missbrauch. Der
Ausstieg aus diesem Dilemma gelingt laut Heller mit der sogenannten
Selbstwirksamkeit, die zwischen dem Kind-Ich mit seinen
Überlebensstrategien und dem Erwachsenen-Ich mit seinem größeren
Verständnis, logischen Fähigkeiten und Kapazität zur gleichzeitigen
Verarbeitung mehrerer Gefühle vermittelt. Dabei hilft, dass man mal
schaut, wie die kindlichen Überlebensstrategien mit den erwachsenen
Bedürfnissen konkurrieren. Mitzuerleben wie man vom Kind-Ich
(Beklemmung) zum Erwachsenen-Ich (Erleichterung) wechselt und zurück.
Und dass man lernt Gefühle/Empfindungen zu sortieren.
Ganz
recht, erstmal wahrnehmen und dann eine passende Schublade suchen. Passt
das Gefühl zu der aktuellen Wirklichkeit? Oder sortieren wir es in eine
Vergangenheit? Und wie stehe ich zu den Emotionen und Gefühlen, wie
bewerte ich sie selbst? Was wollen sie mir sagen, in welche Richtung
möchten sie mich schieben? Welche Palette gibt es?
Gefühle
sind manchmal Erinnerungen, die wir in die Zukunft projezieren
(memories of the future past). Etwas wird passieren wie schon einmal
erlebt, besser vermeiden? Nein, sortieren! Das ist Vergangenheit, jetzt
sind wir erwachsen und jetzt sind wir viel stärker! Selbst wenns schief
geht, das können wir ab! Soweit die Logik. Jetzt das Gefühl.
Hat
man die Emotionen sortiert gilt es nun, sie auszuhalten und nicht
gleich wieder wegzudrücken oder in Aktionen zu kanalisieren. Aushalten,
abwarten, präsent bleiben. Das trainiert die Toleranz für Emotionen und
Gefühle, besonders starke und gemischte Gefühle.
Ein
letzter wichtiger Schritt ist echte Trauer. Trauer über das was man
verloren hat und was nicht wiederkommt. Trauer über das, was man hätte
haben sollen und nicht bekommen hat. Nur mit ehrlicher Trauer kann man
abschließen. All dies, neue Bindunggserfahrungen über Freunde und
Partner und zusätzliche Beschäftigung mit dem Körper (Körperarbeit,
Yoga, Qi Gong) führen schließlich zur Selbstregulierung.
Gerade höre ich den Podcast "Raus aus der Depression" mit Harald Schmidt und Ulrich Hegerl. Was man dort über Depression hört deckt sich wahrscheinlich nicht von ungefähr damit, was Dami Charf in "Auch alte Wunden können heilen"
über die Dissoziation bzw. den Totstellreflex nach Kindheitstraumata
schreibt. Auf Stress reagiert der Körper mit geistiger Distanzierung
(Isolation, Angst), mit Herunterfahren der körperlichen Aktivität
(Ruhebedürfnis), Appetitlosigkeit etc.
Ein
Thema, dass ich hier noch nicht erwähnt habe ist die sogenannte
Hypervigilanz oder erhöhte Wachsamkeit. Diese ist für alle Traumata
typisch. Man scannt die Umgebung permanent nach Triggerfaktoren, also
potentiellen Gefahren ab. Diese Tätigkeit ist ungemein stressig und
frisst viel Energie. Man ist andauernd nervös und ängstlich, kann nicht
abschalten, aber auch nicht produktiv tätig sein. Da man alles
kontrollieren muss, kann man sich nicht mehr auf etwas Bestimmtes
fokussieren. Dieser Zustand kann einer regelrechten Erstarrung oder
Lähmung gleichen oder sich in nervösen Bewegungsmustern (Ticks wie
Fußtippen) oder Kontrollzwängen äussern (etwa auf die Uhr schauen). Man kann aus Ablenkung oder Nervosität eventuell nichts zu Ende bringen und ist sehr vergesslich. Abends
ist man dann total fertig, obwohl man nichts gemacht hat. Trotzdem kann
man vielleicht nicht schlafen, weil man mit dem Schlaf ja die Kontrolle
abgeben müsste. Die Wachsamkeit hält einen immer an der Grenze zu einer
Notreaktion und Reize spezieller Art können Panik, Aggression (auch
verbal) oder ein Abschalten provozieren. Das können Triggerreize sein,
aber auch solche, die eine ungewohnte Empfindung hervorrufen.
Bei
einem starken komplexen Kindheitstrauma entsteht eventuell nicht nur ein
"Schattenkind",
wie bei normalen Menschen, indem der emotionale Anteil unterdrückt
wird, der mit den Eltern in Konflikt stand, es wird manchmal ein
großer Teil oder sogar die gesamte emotionale Persönlichkeit (EP)
abgespalten ("Splitting") und verschlossen, man nennt das "strukturelle Dissoziation". Man hat dann möglicherweise
fast keinen Zugang mehr zu seinen Gefühlen, was auch Alexithymie genannt
wird. Hinzu kommt möglicherweise eine "komplexe posttraumatische Belastungsstörung". Das bisher beste Selbsthilfebuch zur K-PTBS, das mir empfohlen wurde ist "Posttraumatische Belastungsstörung, vom Überleben zum Leben" von Pete Walker.
Rico